Impulsdistanz schafft innere Freiheit

von Kai Romhardt

Impulsdistanz ist die Fähigkeit, einen körperlichen oder geistigen Impuls klar wahrzunehmen, sein Anschwellen und Abklingen zu beobachten, ohne dem Impuls folgen zu müssen. Sie bewahrt uns davor, destruktiven Emotionen freien Lauf zu lassen oder unheilsame Tatabsichten auszuführen. Dies erlaubt es uns, die Folgen einer Tat abzuschätzen und bei klarem Verstand eine Entscheidung zu treffen.

In jedem Augenblick entstehen solche Tatimpulse in unserem Körper und Geist oder werden von außen getriggert. Ein Impuls ist das Anstoßen einer Tat auf der Ebene des Körpers oder Geistes. Ein Impuls blitzt in uns auf, kurz bevor wir etwas sagen, denken, fühlen oder tun. Diesen Impuls können wir leicht verpassen und direkt zur vorgeschlagenen Tat übergehen. Je unbewusster dieser Prozess abläuft, desto unfreier und reaktiver agieren wir.

Je höher unsere Reaktivität, desto geringer unsere Freiheit. Freiheit bedeutet hier, frei zu sein, einem Impuls nicht zu folgen und stattdessen eine eigene Entscheidung zu treffen. Verfügen wir über geringe Impulsdistanz, sind wir leichter zu manipulieren und verlieren unsere Lebendigkeit und Klarheit.

Impulsdistanz bezeichnet ferner die Fähigkeit, bewussten und unbewussten Impulsen auf der Ebene von Körper und Geist nicht unmittelbar nachzugeben. Im Felde des Konsums schießen uns im Alltag immer wieder Impulse wie die folgenden durch den Kopf.

  • „Das brauche ich unbedingt.“
  • „Hätte ich das, wäre ich glücklich.“
  • „Nur noch einmal.“
  • „Das gönne ich mir jetzt.“
  • „Das steht mir zu.“

Hier hilft uns das Innehalten und die achtsame Rückkehr zum Atmen. Achtsames Atmen schenkt uns inneren Raum. Wir lockern reaktive Muster und werden uns unseres automatischen Wertens, Beurteilens und inneren Kommentierens bewusst. Wir denken statt gedacht zu werden. Wir reagieren nicht mehr automatisch auf innere und äußere Impulse. Diese Fähigkeit der Nicht-Reaktivität ist in allen Lebenslagen hilfreich. Wir stoppen, bevor wir etwas kaufen, das wir nicht brauchen, bevor wir ein Wort aussprechen, das wir später bedauern, bevor wir uns Stress mit unwahrscheinlichen Zukunftsszenarien machen. Impulsdistanz bringt uns wahre Freiheit und zeigt einen Weg, der unsere unheilsamen Gewohnheiten zähmen kann.

Üben wir Achtsamkeit, sehen wir, wie unsere Impulsdistanz im Konsum durch unheilsame Geisteszustände wie Wut, Gier oder Angst sowie durch verschiedene Drogen wie Alkohol oder Koffein herabgesetzt wird. Wir spüren, wie es uns im Zustand der Müdigkeit oder Energielosigkeit schwer fällt, starken Impulsen zu widerstehen.

Zu keinem Zeitpunkt ist unsere Impulsdistanz und Achtsamkeit stärker gefordert als zum Zeitpunkt der Kaufentscheidung. Achtsam Konsumieren heißt, im Moment der Kaufentscheidung ganz wach zu sein. Doch beim Shopping sind wir besonders intensiven Beeinflussungen ausgesetzt. Dort wartet eine von Psychologen geschaffene Welt auf uns, die über Gerüche, Musik, Farben und Lichteffekte unsere Stimmung beeinflussen und unsere Kaufbereitschaft steigern will.

Konzentriertes Einkaufen ist sehr befreiend. Statt in Stimmungen und Angebote einzusteigen, bleiben wir bei unserer Einkaufsliste und unserem Atem. Jeden Tag können wir im Supermarkt so üben. Das kann sehr erhellend sein. Bleiben wir beim Einkaufen wach und bewusst, reduzieren sich unsere Konsumausgaben meist automatisch.

Es ist eine Freude, sich frei, entspannt, bewusst, verantwortungsvoll und nach sinnvollen Kriterien für oder gegen ein Produkt zu entscheiden. Uns ausreichend Zeit zu lassen und unsere wahren Bedürfnisse zu spüren und zu prüfen. Uns nicht von inneren oder äußeren Impulsen zu Spontan- und Stimmungskäufen hinreißen zu lassen. Indem wir achtsam einkaufen oder nicht-einkaufen, erkennen wir, warum wir uns wirklich für oder gegen ein Produkt entscheiden. Häufig ist es nur eine Stimmung, ein emotionaler Duft, der schon bald weiterzieht. Wenn wir so frei durch die Einkaufsstraßen dieser Welt gehen können, schaffen wir eine neue Wirtschaft, in der sinnvollere, intelligentere, haltbarere, umweltschonendere und wahrscheinlich auch weniger Produkte angeboten werden.

Verstehen wir die wahre Natur von Impulsen, verlieren sie ihre Macht über uns. Wer einmal erlebt hat, dass ein scheinbar unerträglicher Kratzimpuls in der Sitzmeditation dadurch verschwindet, dass man ihm nicht nachgibt, sondern ihn mit einem Lächeln durch alle Phasen seines Entstehens und Vergehens beobachtet, der gewinnt auch heilsame Distanz zu scheinbar zwingenden Tatimpulsen in anderen Lebensbereichen und damit echte Freiheit für sein Leben. Auf den ersten Blick scheint es wenig bedeutend, ob wir uns kratzen oder nicht. Doch Impulse sind immer und überall. Und erst durch ihre achtsame Beobachtung bekommen wir langsam ein Gefühl dafür, wie weit unser freies Leben, Wählen und Entscheiden durch willkürliche, unbewusste und häufig auch schädliche Impulse bestimmt wird.


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