Indien als Lehrer: Oder was ist Wohlstand?

von Kai Romhardt

Seit fast 18 Monaten reisen Freunde von mir um die Welt. Zur Zeit sind sie in Indien, wo sie vor kurzem eine Woche in einem Hospiz aushalfen. Sie berichteten, wie Kranke und Sterbende in den Organisationsbetrieb eingebunden wurden und wie das sichtbare und geteilte Leid, nicht zu Entsetzen, sondern zu Mitgefühl führte. Hier gibt es keine teuren Einzelzimmer, in denen die Menschen allein und versteckt starben, sondern einen unkonventionellen Massenbetrieb, in dem das Sterben zum Leben dazugehört.

Vor dem Leiden nicht davonlaufen, ist der erste Schritt aus dem Leiden.

Heute lese ich folgenden Bericht von den Beiden. Diesmal geht es um das Verhältnis zur eigenen Arbeit, danke liebe Angela, danke, lieber Christian, für euren Bericht:

„In einem winzigen Lokal mit nur 6 Tischen treffen wir einen jungen Mann, der uns erzählt, er arbeite als Kellner im 5-Sterne-Radisson-Hotel am Ortsrand. Wir fragen ihn, was denn dort ein Zimmer kosten würde. Er antwortet, das preiswerteste Zimmer liegt bei 10.000 Rupees (ca. € 150,-) pro Nacht und ergänzt, dass die Hotelgäste vorwiegend reiche Inder seien. Wir müssen schmunzeln. Mit 10.000 Rupees decken wir unsere Kosten für eine ganze Woche ab.

Unser junger Freund entgegnet darauf, dass er selbst eineinhalb Monate lang täglich 12 Stunden arbeiten müsse, um 10.000 Rupees zu verdienen.

So ungerecht ist der Reichtum unter den Menschen aufgeteilt…Das ist eine Lektion, die man hier immer wieder aufgetischt bekommt. Und auch wenn wir auf der Gewinnerseite dieses Ungleichgewichts stehen, berührt uns diese Einsicht eher unangenehm. Warum sollte es uns soviel besser gehen, nur weil wir in einer Industrienation geboren wurden? Verdient haben wir es uns jedenfalls nicht…

Und doch geht es uns im Westen nur einseitig besser. Wenn wir viele Inder beim Verrichten ihrer täglichen Arbeit beobachten, dann sind wir immer wieder berührt davon, wie viel Spaß sie bei der Arbeit haben. Sie verdienen nicht viel. Sie müssen dafür endlos lange Stunden arbeiten. Und doch genießen sie ihre Lebenszeit! Selbst wenn ein Restaurant gerade brechend voll ist, finden die Kellner immer noch Zeit für einen Scherz. Die Areitslast verdirbt ihnen nicht die Laune. Auch der Bügelmann, der in der tropischen Hitze tagtäglich vor dem mit glühenden Kohlen gefüllten Bügeleisen steht, macht seine Arbeit nicht griesgrämig, sondern mit voller Gleichmut, Anmut und Achtsamkeit. In seinen Bewegungen ist weder Stress noch Frust zu finden.

Diese Lebenskunst ist unter den Menschen in den Industrienationen viel seltener anzutreffen. Im Westen haben wir zwar erheblich bessere Arbeitsbedingungen und doch finden wir immer etwas, über das wir uns beschweren müssen. Viele Menschen finden ihr Glück kaum bei der Arbeit, sondern erst bei Feierabend oder am Wochenende. Vielleicht ist es ein Stolperstein, so etwas wie Freizeit überhaupt zu kennen. Es verführt uns dazu, Seite zu beziehen gegen die Arbeitszeit.

Für viele Menschen in ärmeren Ländern gibt es diese Falle nicht. Das ganze Leben besteht weitestgehend aus Arbeit. Und auch einen Ruhestand mit Rentenzahlung gibt es nicht. Wenn die Menschen hier bei der Arbeit keine Zufriedenheit finden, dann gibt es für sie nirgendwo im Leben Zufriedenheit. Und – schwuppdiwupp – schon finden sie Spaß, Freude und Zufriedenheit bei der Arbeit. So schwer ist es gar nicht. Diese Erkenntnis wollen wir mit uns zurück nehmen in unsere europäische Arbeitswelt…“


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